This site uses cookies for anonymised analytics and HTML5 Web Storage to locally store information like language choice, in order to ensure you get the best experience on our site.
∗ 28.5.1802 Olten,
† 18.3.1844 Solothurn
Olten (SO)
Karikaturist, Maler, Illustrator und Radierer. Zeichenlehrer an der Solothurner Kantonsschule. Ab 1839 Mitherausgeber des Distelikalenders
Switzerland (CHE)
caricature
drawing
graphic arts
illustration
painting
M
Sohn des reichen Seidenfabrikanten und aktiven Politikers der Helvetik Urs Martin Disteli. 1821–23 studiert Disteli in Freiburg im Breisgau und in Jena, dem Mittelpunkt der deutschen Einheits- und Freiheitsbewegung. Als Mitglied einer illegalen Burschenschaft nimmt er an einer Pereat-Schmähung gegen Staatsminister Johann Wolfgang von Goethe teil, wird von der Universität gewiesen und muss fliehen. Zurück in Olten bewirbt sich Disteli erfolglos um die Stadtschreiberstelle und beginnt darauf – ohne akademische Kunstausbildung – eine Tätigkeit als Zeichner und Illustrator. Jahrelang erteilt er daneben unentgeltlichen Zeichenunterricht. 1827 vergebliche Bewerbung um die Stelle des Zeichenlehrers am Solothurner Kollegium. Politisch stellt sich Disteli aktiv auf die Seite der Liberalen und unterstützt diese durch seine künstlerische Tätigkeit.
Um 1825–26 wahrscheinlich kurzer Aufenthalt in München, wo er die Werke des Nazareners Peter von Cornelius (1783–1867) studiert. In dieser Zeit lernt Disteli über satirische Zeitschriften die französische Grafik kennen. Er hegt ein grosses Interesse für Geschichte, sammelt und studiert Schweizer Bilderchroniken und alte Kalender. Um 1829 ist Disteli unter den Begleitern des Solothurner Naturforschers Franz Joseph Hugi auf einer Reise im Berner Oberland. Ganz im Sinne seines Auftraggebers fertigt er mit der Sorgfalt eines Panoramazeichners bemerkenswerte Darstellungen von Gebirgslandschaften. 1829 publiziert Disteli seine erste Serie von Radierungen, Umrisse zu A. E. Fröhlichs Fabeln. Seit dem Bankrott des väterlichen Unternehmens 1829, aber auch zur Versorgung seiner kranken Frau, die 1831 stirbt, ist Disteli auf jede Arbeit angewiesen und übernimmt trotz seiner antiklerikalen Haltung sogar Aufträge für Kirchenbilder.
1830 bringt die erfolgreiche Julirevolution in Frankreich die Meinungs- und Pressefreiheit. Die politische Karikatur blüht auf und regt Künstler weit über die Grenzen Frankreichs hinaus an. Disteli ist 1830 führend beteiligt an der politischen Umwälzung in Solothurn im Zuge der liberalen Bewegung und zieht im folgenden Jahr als Freischärler-Hauptmann einer Schützenkompanie in die Basellandschäftler Befreiungskriege.
Nach der Machtübernahme der Liberalen in Solothurn avanciert Disteli im Militär sehr schnell zum Oberst und wird 1831 Gemeinderat in Olten. Er ist Mitglied des Langendorfer Schützenvereins, des politisch aktivsten und radikalsten im Kanton Solothurn. Seit 1834 in Solothurn wohnhaft, erhält Disteli 1836 jene Stelle als Zeichenlehrer an der Kantonsschule, für die er sich 1827 beworben hatte. Sein liberaler Freundeskreis vermittelt ihm Aufträge und Publikationsmöglichkeiten. Er arbeitet für republikanische Almanache und Zeitschriften, zum Beispiel für das literarische Taschenbuch Alpenrosen, und stellt vermehrt satirische Darstellungen her über die Macht der Aristokratie und des Klerus, besonders der Jesuiten. 1841 erscheinen die Illustrationen zu den Abentheuern des Freiherrn von Münchhausen, mit deren selbstherrlich scheiternden, in stetem Kampf mit den Machthabern begriffenen Hauptfigur sich Disteli identifiziert. Ab 1839 widmet sich der Künstler fast ausschliesslich der Publikation des Schweizerischen Bilderkalenders. Dieser erscheint in Solothurn bis 1845. Die letzte Nummer enthält bereits den Nachruf auf den mit wenig mehr als 40 Jahren verstorbenen Künstler.
Das Leben Distelis fällt in den politisch unruhigen Zeitraum zwischen dem Ende der Helvetischen Republik und dem Vorabend des Sonderbundskrieges. Den schweizerischen Durchbruch erreicht er 1829 mit den originellen Radierungen zu Fröhlichs Fabeln. Seine satirischen Tierbilder entwickelt er, ganz im Geist der Zeit, basierend auf den Tiercharakteren des französischen Karikaturisten J.-J. Grandville (1803–1847). Die künstlerische Auseinandersetzung mit den politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen rückt immer mehr in den Mittelpunkt seines Schaffens. Zahlreich in Distelis Werk sind – wohl auch als willkommene Verdienstmöglichkeit – Bildnisse, wobei er mit besonderer Vorliebe seine liberalen Mitkämpfer darstellt: Handwerker, Wirte, Politiker. Diese porträtiert er in realistischer Weise, die Gegner – Konservative, Klerus und Anhänger des alten Patriziats – dagegen in karikierenden, skurrilen Darstellungen und Situationen.
Der impulsive Aktivist und Parteigänger der Regeneration schafft in flächenfüllenden, detailreichen, geschichtlichen Kompositionen, eine neue, sich von der offiziellen Historienmalerei deutlich abhebende Kunst. Seit Niklaus Manuel und dem von Disteli besonders bewunderten Urs Graf ist der Oltener der erste bildende Künstler, der kritisch und engagiert die Schweiz, ihre Geschichte und Mentalität, zu durchleuchten versucht. Er ist bestrebt, von der Situation der Gegenwart ausgehend, eine Erneuerung des Schweizer Geschichtsbildes zu gewinnen. Disteli nimmt die Befreiungstradition der Eidgenossenschaft beim Wort und geisselt in seinen Zeichnungen die Machtspiele und Unfreiheiten seiner Zeitgenossen (Hans Christoph von Tavel 1992).
Wandte sich Disteli mit seinen Bildern in Almanachen und Büchern vor allem an die gebildeten Liberalen, so richtet er sich mit der Herausgabe seines als Disteli-Kalender bekannten Almanachs Schweizerischer Bilderkalender direkt an das Volk, in welchem er die Hauptkraft zur Veränderung der gesellschaftlichen Zustände sieht. Im Dezember erscheinend, ist das politische Kampfblatt der Freisinnigen im Vormärz aufgrund der vielen darin enthaltenen praktischen Angaben (Wetterregeln, Daten und Orte verschiedener Märkte und anderes mehr) das ganze Jahr hindurch nützlich und im Gegensatz zu seinen Vorgängerpublikationen reich bebildert. Durch die leicht verständlichen Illustrationen Distelis (Lithografien und Holzschnitte) und die Texte des befreundeten Regierungsrates und Arztes Peter Felber will man auf die politische Meinungsbildung vor allem der Landbevölkerung Einfluss nehmen. Sie soll zur Verteidigung der errungenen Freiheiten ermutig und für den Kampf um eine demokratische Bundesverfassung gewonnen werden. Ein Jahrgang umfasste gewöhnlich dreierlei Bilder: einmal historische, die dem Volk die grossen Schweizer Heldentaten gegen Unterdrückung und Fremdherrschaft ins Bewusstsein riefen; dann satirisch zugespitzte Schilderungen zeitgenössischer Ereignisse (Züriputsch, Tessiner und Bündner Wirren); schliesslich anekdotisch-unterhaltende Zeichnungen. Seit 1842 nahm die ausgesprochen politische Karikatur in prägnanten, zeichnerisch meisterhaften Holzschnitten einen breiteren Raum ein, und ihre Sprache wurde schärfer. Der Kalender zog Prozesse und Verurteilungen nach sich, wurde in konservativen Kantonen von der Polizei beschlagnahmt, verbrannt und verboten. Mit Auflagen bis zu 20000 Exemplaren, 1844 sogar ergänzt durch 8000 französische, war er jedoch ein Verkaufserfolg.
Martin Disteli hatte zu Lebzeiten mit seinem Kalender ein Wirkungsfeld wie kaum je ein anderer Schweizer Künstler. Die für den Zeichner charakteristische Verknüpfung von künstlerischer und politischer Aussage findet im Schweizerischen Bilderkalender den deutlichsten Ausdruck. Die Schaffung des liberalen Bundesstaates erlebte Disteli allerdings nicht mehr.
Werke: Kunstmuseum Olten, Martin Disteli-Sammlung; Kunstmuseum Solothurn; Graphische Sammlung der ETH Zürich.
Paola von Wyss-Giacosa, 1998, aktualisiert durch die Redaktion, 2011
Zitiermethode:
Paola von Wyss-Giacosa: «Martin Disteli». In: SIKART Lexikon zur Kunst in der Schweiz, 2011 (erstmals publiziert 1998).
https://recherche.sik-isea.ch/sik:person-4022886/in/sikart
Martin Distelis Kunst unter der Lupe - Augenweiden und Agitation. Von den Illustrationen zu Münchhausen bis zu einem imaginären Totentanz. Kunstmuseum Olten, 2007. Olten: Kunstmuseum, 2007.
Fabeln von Abraham Emanuel Fröhlich. Mit Zeichnungen von Martin Disteli. Hrsg.: Hellmut Thomke, Silvia Serena Tschopp. Nachdruck der 2. Auflage. Bern, Stuttgart, Wien: Paul Haupt, 1994.
Hans-Christoph von Tavel: Nationale Bildthemen. Disentis: Desertina, 1992 (Ars Helvetica X. Die visuelle Kultur der Schweiz) [französische, italienische und romanische Parallelausgaben], S. 226-231.
Philippe Kaenel: «Pour une histoire de la caricature en Suisse». In: Nos documents d'art et d'histoire, 42, 1991, 4, pp. 403-442.
Paul Meier: Kunstmuseum Olten. Sammlungskatalog. Zürich: Schweizerisches Institut für Kunstwissenschaft, 1983 (Kataloge Schweizer Museen und Sammlungen 8), S. 42-64.
Lucien Leitess, Irma Noseda, Bernhard Wiebel: Martin Disteli.. und fluchend steht das Volk vor seinen Bildern. Olten, 1977.
Martin Disteli. Wanderausstellung. Kunstmuseum Olten, 1977. [Texte:] Lucien Leitess, Irma Noseda, Bernhard Wiebel. Olten, 1977.
Franz Zelger: Heldenstreit und Heldentod. Schweizerische Historienmalerei im 19. Jahrhundert. Zürich: Atlantis, 1973.
Gottfried Wälchli: Martin Disteli. 1802-1844. Zeit, Leben, Werk. Zürich: Amstutz Herdeg, 1943 [mit Werkverzeichnis und Angabe der wichtigsten Disteli-Literatur].
H. D.: Maler Martin Disteli als Bewerber um eine Professur für bildende Kunst an der Berner Hochschule. Olten: Dietschi & Cie., 1922.
Die Abentheuer des Freiherrn von Münchhausen geziert mit 14 in Kupfer radierten Zeichnungen von M. Disteli. Solothurn: Jent und Gassmann, 1841.
M[artin] Disteli: Schweizerischer Bilderkalender. Solothurn: Gassmann, 1839-1845 [Neuausgabe, einleitende Texte: Hans Derendinger [et al.]. Olten: Einwohnergemeinde, Dietschi Verlag Oltner Tagblatt, [1994]].
M[artin] Disteli's Umrisse zu A[braham] E[manuel] Fröhlichs Fabeln. Aarau: Sauerländer, 1828.